Herzlich Willkommen im Kurs Legal Data Lab und in der ersten Lektion! Über die kommenden Wochen werden wir uns im Rahmen dieser Online-Lektionen unterschiedliche Aspekte von juristischen Daten und Computational Law ansehen. Die Lektionen sind dabei immer in einen rechtlichen und einen technischen Teil unterteilt. Am Ende jedes technischen Teils gibt es auch eine Übungsaufgabe, deren Lösung zwei Wochen nach Veröffentlichung der Lektion online gestellt wird.

In der ersten Lektion will ich Ihnen einerseits einen Überblick über die technischen Voraussetzungen des Kurses geben und sie Sie andererseits in die übergreifenden Themen dieses Kurses einführen.

Inhaltsverzeichnis

Worum es in diesem Kurs geht

Kern des Kurses ist die Beschäftigung mit juristischen Daten – also Legal Data, die dem Kurs seinen Namen geben. In der Lehrveranstaltung sehen wir uns an, wie man an diese Daten kommt, wie man sie strukturieren und analysieren kann, und welche Erkenntnisse man daraus ziehen kann. Zusammengefasst werden diese Analysen oft unter der Bezeichnung Computational Law.

Computational Turn

In den vergangenen Jahren (und Jahrzehnten) haben einige wissenschaftliche Disziplinen einen sogenannten Computational Turn durchgemacht. Weil Forschungsgegenstände zunehmend digitaler wurden, mussten sich auch die Methoden für deren Analyse anpassen. So verlagerten sich große Teile des politischen Diskurses online (zB Social Media Präsenzen von Politiker*innen). Um diese adäquat untersuchen zu können, mussten für die Politikwissenschaft ebenso digitale Methoden entwickelt werden. Ähnliche Entwicklungen gibt es zB in der Soziologie, der Kommunikationswissenschaft oder der Geschichte. Auch werden ursprünglich analoge Materialien zunehmend digitalisiert, sodass sie leichter automatisiert ausgewertet werden können.

Besonders in den letzten Jahren wurden diese Methoden systematisiert und formalisiert, sodass sie mittlerweile im wissenschaftlichen Mainstream angekommen sind. In den Sozialwissenschaften wird vor allem von Computational Social Science gesprochen, in den Geisteswissenschaften wird die Disziplin Digital Humanities genannt.

The role of computation in CSS [Computational Social Science, Anm.] is comparable to that of mathematics in physics: it is used as a language to formalize theory and empirical research to express, study, and develop our understanding of social complexity in ways that are not accessible through other means. By contrast, pure computer scientists use computation to study computing, just as pure mathematicians use mathematics to study mathematics. — Cioffi-Revilla, Introduction to Computational Social Science, 35.

Auch im juristischen Bereich sind zunehmend Informationen digital verfügbar geworden. Man denke zum Beispiel an das RIS. Daher gab und gibt es auch in den Rechtswissenschaften einige Ansätze für die Digitalisierung der Rechtsauslegung und -anwendung.

Code is Law

Einer dieser Ansätze wird oft als “Code is Law” bezeichnet. Die Idee dahinter ist, dass das Recht (vereinfacht gesagt) eine Aneinanderreihung von Wenn-Dann-Verknüpfungen ist. Wenn alle Tatbestandselemente erfüllt sind, dann tritt die Rechtsfolge ein. Das Recht wäre daher wie ein Algorithmus, den man folglich auch mit Code abbilden könnte. Anstatt Regelungen in natürliche Sprache zu fassen, könnte man diesen Code verbindlich erklären und automatisiert vollziehen lassen. Der Vorteil von diesem Ansatz besteht darin, dass es zu keinen “Fehlurteilen” kommen kann. Der Code ist das Recht. Wenn ein Programm auf Basis dieses Codes eine automatisierte rechtliche Entscheidung trifft, hat sie notwendigerweise das erwartete Ergebnis. Allfällige Bugs im Code sind womöglich ein Fehler der Gesetzgebung, nicht des Vollzugs.

Ansätze wie diesen findet man schon seit 1924 und erleben seitdem regelmäßig ein Revival. Der jüngste Trend sind sogenannte Smart Contracts. Dabei wird ein Vertrag in Code gefasst, der automatisiert vollzogen wird. Die rechtliche Exekution wird also durch eine technische ersetzt. Man kann also technisch gar nicht anders, als sich an den Vertrag zu halten. NFTs werden zum Beispiel so übertragen. Abgesehen davon, dass umstritten ist, ob Smart Contracts überhaupt Verträge sind, kann es zu Konflikten zwischen einem Smart Contract und dem (zwingenden) positiven Recht kommen. Zum Beispiel bei einer ungültigen Klausel oder einer Irrtumsanfechtung. In diesem Fall würde trotzdem das analoge Recht “gewinnen”.

Probleme

All diese Ansätze haben allerdings ähnliche Probleme: zum einen ist die Rechtsordnung sehr komplex. Allein das Bundesrecht besteht aus über 150.000 Paragrafen, die alle mit einander mehr oder weniger in Beziehung stehen. Dazu kommen die Landesrechte, das Unionsrecht usw. Die Umstellung des gesamten Rechtssystems wäre ein riesiges Unterfangen, besonders weil die natürliche Sprache Regelungen recht effizient beschreiben kann. Vieles kann man zum Beispiel implizit voraussetzen (etwa was ein Jahr ist), was man in Code explizit definieren müsste. Auch Interpretationsfragen und unbestimmte Rechtsbegriffe müsste man eindeutig in Code niederschreiben, was anhand der Unendlichkeit von Lebenssachverhalten wohl nicht möglich ist. Wie will man denn einem Computer erklären, was sittenwidrige Verträge (§ 879 ABGB) sind, wo sich das noch dazu mit der Zeit ändern kann.

Ein weiteres Problem besteht bei der Interaktion von Code mit der “echten Welt”. Wie also soll das Programm den Sachverhalt eines Falles ermitteln? In gewissen Bereichen, etwa in der Steuerverwaltung ist das einfacher, weil hier schon Daten in einer maschinenlesbaren, strukturierten Form vorliegen. Bei einer Ehescheidung würden automatisierte Entscheidungen wohl schnell an ihre Grenzen stoßen. In der Blockchain-Welt werden diese Schnittstellen mit der tatsächlichen Welt oft Oracles genannt.